Literarisch hochwertig

Leben in Schubladen

„Nein, die bitte nicht, die möchte ich behalten.“

Die zwei Männer guckten sich erstaunt an, stellten das schäbige Möbelstück aber umgehend wieder ab. Ganz vorsichtig, als handelte es sich bei der hellblauen Kommode um eine wahrlich wertvolle Fracht. Der Lack war schon an vielen Stellen abgesplittert und die ursprüngliche Farbenpracht der abgegriffenen Porzellanknäufe war nur noch erahnbar. Besonders ansehnlich war sie nun wirklich nicht mehr und trotzdem war dies das einzige Stück, das sie auf keinen Fall weggeben wollte. Sie setzte sich auf den abgetretenen Holzboden und überließ sich ihren Erinnerungen.

„Wenn du alles ordentlich sortierst, hast du stets den Überblick.“

War das erst gestern gewesen, dass sie diese Worte zuletzt zu hören bekommen hatte? Sie blickte gedankenversunken auf das blaue Schränkchen mit den vier Schubfächern. Der aufgeschraubte Spiegel war bereits stellenweise angelaufen und zeigte Bilder aus einer vergangenen Zeit. Mehrmals auf- und wieder abgebaut, umgezogen, herum getragen, geliebt, geschliffen und mehrmals umgestrichen. Und immer wieder sorgfältig eingeräumt. Manchmal hatte ihre Großmutter den Inhalt der Schubladen einfach so umsortiert.

„Wenn dein Leben einen anderen Weg einschlägt, musst du die Dinge anders gewichten.“

Struktur war Großmutter immer wichtig gewesen, um den weiteren Weg zu wissen, den sie zu gehen wünschte. Sicher, nicht immer konnte sie dann auch so gehen, wie sie es sich gewünscht hatte, aber ihre innere Welt war zumindest stets übersichtlich und wohlgeordnet.

Aus der Erinnerung heraus formierte sich ein abstrakter, doch bereits vertrauter Gedankengang. Wie würde sie selbst diese Schubladen einräumen? Was wäre ihr in ihrem eigenen Leben am wichtigsten? Zugegeben, als sie sich diese Frage zum ersten Mal gestellt hatte, da war das noch ziemlich einfach: in die oberste Schublade den Bären. In die zweite das rote Kleid mit der weißen Schleife. Spielzeug, Mama und Papa kamen in die dritte und die restliche Bekleidung in die vierte Schublade.

Als sie älter wurde, tauschte sie den Bären durch einen Mann aus, die restlichen Schubfächer füllte sie mit Kleidern.

Als dann die Kinder kamen, rutschte der Mann in die zweite Schublade und für Eltern und Kleider blieben wieder die beiden unteren.

Eine Zeit lang befand sich in der ersten Schublade sogar alles, was sich um ihre Arbeit drehte. Der zeitraubende Alltag vermochte auch noch die zweite in Beschlag zu nehmen, Kinder und Mann quetschten sich in die dritte Lade und Eltern und die Klamotten quollen aus der vierten schon beinahe heraus.

Gut war diese Ordnung nicht, wie sich bald herausgestellt hatte. Aber wie würde sie die Kommode jetzt einräumen? Und wo war sie selbst die ganze Zeit über gewesen? Wen würde sie im verblichenen Spiegel entdecken?

Lange saß sie vor der Kommode und versuchte, ihr Leben zu strukturieren. Schließlich stand sie auf und stellte sich direkt vor den Spiegel. „Alt bist du geworden! Und weißt immer noch nicht, was du überhaupt tust und sollst und was wirklich wichtig ist.“

Behutsam zog sie eine Lade nach der anderen auf und atmete den Geruch ihrer Großmutter ein. Er erinnerte sie an Geborgenheit, Aufmerksamkeit und Liebe.

Da wusste sie, wie sie die Schubladen ihrer Kommode einzuräumen hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ich bin Marion und schreibe in unserem Onlinemagazin Meermond zu den Themen Reisen, Fotografie, Kultur und unser Leben in Skandinavien.

17 Comments

  • Silberkopf

    Ich finde es wunderbar, wenn man so eine Kommode hat..ob imaginär oder in echt..so what!
    Meine ist nur im Kopf vorhanden, weil ich meinen Kinder später ersparen möchte eine ‚reale‘ Kommode auszumisten.
    Ich hatte leider keine Großmutter..also in dem märchenhaften Denken.. „Oma in der Küche mit Schürze und später Bücher vorlesend“, ich hatte gar keine, weil sie sehr früh verstorben ist als meine Mutter noch sehr jung war.
    Ich hatte auch keinen Opa in diesem Sinne, also einen der einen auf den Schoß nimmt und kuschelt. Ich hatte einen Großvater!
    Er war sehr korrekt in allem,er trug sogar im Garten eine Anzughose und Hemd und du liebe Zeit, wir durften um Himmels Willen nicht Sch…e sagen und er hat nie gewußt daß ich rauche selbst als ich erwachsen war wurde das streng geheim gehalten. Allerdings war er auch sehr fortschrittlich und hat mir mit 15 Jahren ein Mofa und später das erste Auto finanziert. „Die jungen Leute müssen ja mobil sein!“
    Aber es fehlte mir doch an „Kuschelung“ ab und an.
    Und ich hoffe, daß unser Enkel später mal etwas anders an uns denkt.

  • lb&m

    Ein wunderbarer Artikel, gefühlvoll geschrieben und so wahr! Meine Kommode würde so aussehen:
    In die erste Schublade kommen meine Freunde und meine Familie
    In die zweit kommt mein Blog und Bücher
    In der dritten würde ich gaaaannnnzzz viel Schokolade lagern und in die vierte würde ich meine Jogginghose mit meinem Lieblings-Pulli und meinem Bett stellen…
    Liebst, Marie

  • Stella, oh, Stella

    Mein Mann und ich haben gerade gestern mal wieder unseren Fokus geradegerückt. Alles andere muss sich darum herum fügen. Tut es auch normalerweise. Nur fangen wir dann nach einiger Zeit immer an, undankbar zu sein und was anderes zu wollen, bis wir wieder einmal einsehen, dass wir schon alles haben.

  • puenktchenundwortgestoeber

    Das gefällt mir sehr gut, passt. Wohl jeder hat so eine „Kommode“ es macht Mut sein Leben mal wieder neu zu sortieren.Das wichtige von dem zu trennen, was früher einmal wichtig war oder von dem man zumindest einmal glaubte es sei wichtig..
    Danke.
    LG Wortgestoeber

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